De Bääm

von Jürgen de Bassmann (Jürgen Roth)

Als Kinder nannten wir sie „Hubschrauber“. Die Samen dieses mächtigen Baums, die an einem Flügelblatt kreisend träge vor unseren Füßen landeten, wenn es windstill war, oder mit dem Sommerwind weit in den blauen Himmel segelten. Der Baum war eine Linde. Aber für uns Kinder war diese Linde damals einfach nur ein sehr großer, sehr dicker und sehr hoher Baum, „der Baum“, oder in unserem breiten Pfälzisch halt: „de Bääm“.

Rund um seinen mächtigen Stamm führte - wie ein sechseckiger Ring - eine weiß gestrichene Bank. Auf die wurden wir morgens von unseren Müttern gestellt, damit sie sich nicht so tief bücken mussten. Denn meisten war es bitter nötig, uns nochmal die Nase zu putzen, bevor sie uns im Kindergarten ablieferten – dem „Kinnergaarde“ - vor dem „de Bääm“, die große Linde also, stand.

Hoch ragte der Stamm, bis er sich zum ersten Mal teilte und breit wölbte sich dann seine Krone, die die Dächer der umstehenden Gebäude streichelte. Eng um die Linde reihten sie sich, dicht aneinander gekauert: Mal prächtige, mal bescheidene Fachwerkhäuser. Wie nette, neugierige Tanten standen sie da und bildeten so das idyllische Fleckchen, genannt „Das Plätzel“.

„Das Plätzel“, der kleine Platz, das Plätzchen also. Denn ein paar Stufen über dem kleinen Plätzel, da lag und liegt noch: der große Platz, der Marktplatz der Stadt. Dort oben residiert majestätisch der überlebensgroße Löwe aus Sandstein, das Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs. Und dort oben wacht über das Plätzel die mächtige, schweigsame „Großmutter“, die St. Georgskirche mit ihrem wuchtigen Wehrturm.

Wenn nun damals die Großmutter ihr Schweigen brach und volltönend läutete – es muss immer um die Mittagszeit gewesen sein - dann war der Kindergarten aus. Die große Eingangstür wurde geöffnet und wir konnten durch den Türspalt unsere Mütter an der Bank unter der Linde auf uns warten sehen.

Das war – zumindest in meiner Erinnerung – der Moment, in dem einer von uns „Stepfern“ („Stöpsel) rief: „Wer als Ehrschder am Bääm isch!“ Keiner von uns Knirpsen überhörte dieses Startsignal für das große Wettrennen des Tages. Die Distanz war kurz, sie reichte nur die paar Meter vom Eingang des Kindergartens bis zur Linde. Aber bevor wir Kinder loslaufen konnten, da mussten wir die Schuhe anziehen und die Jacke auch. Im Winter kämpften wir mit Schal, Mütze und Handschuhen und meistens verhedderten wir uns vor lauter Aufregung beim Umhängen des Vespertäschchens, in dem wir unser Pausenbrot mitgebracht hatten.
Da waren „die Großen“ - das müssen damals die Fünfjährigen gewesen sein – natürlich im Vorteil. Die wussten schon, wie man alleine einen Reißverschluss einfädelt, ohne die Hilfe der Erzieherinnen, die sich damals ganz selbstverständlich von uns „Dande“ (Tante) nennen ließen. Die Großen, ja die konnten ihre Jacke so zuknöpfen, dass es oben am Kragen auch „aufging“ und kein Knopf oder Knopfloch übrigblieb. Und die kannten das Geheimnis der „Schuhbennel“ (Schnürsenkel) und wie man sie so bindet, dass ein „Schlupf“ (eine Schleife) entsteht und nicht nur ein „Knibbel“ (Knoten). So werden diese Großen wohl auch meistens das Rennen gewonnen haben. Als ich später selbst zu den „Großen“ gehörte, war ich doch immer noch einer der Kleinsten in meinem Jahrgang und kann mich nicht erinnern, jemals „Ehrschder“ am Baum gewesen zu sein.

Doch ist die Erinnerung an diese frühen Jahre vielleicht verschwommen? Hat sich alles so zugetragen oder täuscht mich mein Gedächtnis? Schließlich liegt ein ganzes Leben zwischen der Kindergartenzeit und jetzt. Auch mag meine Phantasie die Wirklichkeit von damals verwischt und weichgezeichnet haben. Als Kind der 1960er Jahre, groß geworden mit Fotos in Schwarzweiß und mit Schwarzweiß-Fernsehen, sind ja auch viele Bilder in meinem Kopf zum Beispiel ganz ohne Farben. So sehe ich mich in Gedanken immer in Schwarzweiß auf meine Mutter zulaufen, die im gleichen Schwarzweiß unter der Linde auf mich wartet.

Heute ist das Plätzel immer noch das idyllische Herz des Städtchens. Die Fachwerkhäuser stehen noch und sind wohl liebevoller und prächtiger hergerichtet als je zuvor. Aus dem Hintergrund grüßt das sanierte Alte Rathaus und zeigt seine gediegene Rückansicht. Und auch die altehrwürdige St. Georgskirche läutet immer noch zu Mittag und zu anderen Stunden des Tages.

Doch hinter den heute so schön herausgeputzten Fassaden ist nur noch wenig Leben. Denn der Kindergarten ist schon lange wegen Baufälligkeit geschlossen und schaut seitdem aus traurigen, blinden Fensterhöhlen auf das Plätzel. Kaufläden, Handwerker und Kneipen rundum machten dicht. Und nun segeln auch keine „Hubschrauber“ mehr in den Himmel. Denn die Linde war krank. Eine der umstehenden netten Tanten geriet auf ihre alten Tage noch in Feuer und hat den Baum versengt – was sicher nicht mit Absicht geschah. Und dann machte auch noch ein Sturm den betagten Baum ganz strubbelig. Das war zu viel für „de „Bääm“. Er geriet ins Wanken und musste gefällt werden.

Wie viele Pärchen mögen sich unter seinem Laubdach wohl geküsst haben? Und wie viele Hunde ihr Beinchen an seinem Stamm gehoben? Es sei der alten Frau Linde gegönnt, dass sie sich – alt und schwach, wie sie zuletzt war – nach so langer Zeit der Standhaftigkeit zur Ruhe legen durfte. Sie wurde 150 Jahre alt – und hat so mehr geschafft, als je einer von uns schaffen wird.

Sie war ein Baum, wie er in hunderten, vielleicht Tausenden von Dörfern steht oder stand. So betrachtet war die Linde gar nichts Besonderes. Sie war nicht die größte und wohl auch nicht die schönste, nicht die älteste und nicht die stolzeste. Aber sie war unsere - und sie war unsere einzige.

Deshalb sieht das Plätzel jetzt so leer aus. Wie ein trauriger, abgeräumter Blumentopf, mit einem Loch in der vertrockneten Erde, in dem eben noch ein Primelchen geblüht hat.

Ich bin am 10. Mai 1964 in Kandel in der Pfalz geboren. Das war ein Sonntag und auch ein Muttertag. Zum selben Datum, nur über 90 Jahre früher, am 10. Mai 1871 endete der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich von 1870/71. Aus Freude darüber pflanzten die Kandeler auf ihrem Plätzel die Friedenslinde. So haben die Linde und ich – was für ein Zufall - am selben Tag Geburtstag.

Wenn ich mir zu diesem Geburtstag etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein Stückchen Lindenholz, unten aus dem dicken Stamm oder von hoch oben aus den Spitzen der Äste. Aus dem würde ich mir ein kleines Lindenbäumchen schnitzen. Ganz klein – gerade so groß, dass es in mein Vespertäschchen von damals gepasst hätte. Das würde ich dann auf unseren Esstisch stellen. Und wenn alle hungrig sind und die dampfenden Schüsseln auf dem Tisch stehen, dann könnte ich rufen: „Wer als Ehrschder am Bääm isch!“. Und vielleicht würde ich dann auch mal das Wettrennen gewinnen.